GALFIONE MARÍA VERÓNICA
Congresos y reuniones científicas
Título:
Die Unruhe der Kritik
Autor/es:
GALFIONE, MARÍA VERÓNICA
Reunión:
Otro; Forschungskolloquium Prof. Breuer (Mainz); 2021
Resumen:
In seinem letzten Buch Die Gesellschaft der Singularitäten erklärt Andreas Reckwitz die Entwicklung der Geschichte der Moderne seit dem 18. Jahrhundert bis heute aus der Konkurrenz von zwei entgegengesetzten Logiken. Die erste, die seit dem 18. Jahrhundert bis die 70er Jahren des 20. Jahrhunderts vorherrschend gewesen sei, privilegiere das Allgemeine und sei ?mit dem gesellschaftlichen Prozess der formalen Rationalisierung verknüpft?. Die zweite, die sich in der Spätmoderne verbreitet habe, sei dagegen wertorientiert und singularisiere insofern Menschen, Dinge, Ereignisse, Orte oder Kollektive. Diese Periodisierung setzt aber nicht voraus, dass die Logik des Allgemeinen in der Spätmoderne und die des Besonderen in der Moderne nicht mehr oder noch nicht in Kraft seien, sondern dass diese Pole dann nur eine untergeordnete Rolle spielten. So tritt die singularisierende Tendenz in der Moderne lediglich als Widerstandsbewegung gegen die Standardisierung des herrschenden Allgemeinen in Erscheinung, während sich in der Spätmoderne das Allgemeine in die zweckrationale Technologie verwandele, die die Singularisierung möglich macht. Der Dualismus transformiere sich so in der Spätmoderne in eine Vordergrund- und eine Hintergrundstruktur, wobei der Vordergrund auf die Singularisierungsprozesse verweise, während sich die Hintergrundstruktur auf die zweckrationale Technologie beziehe, die die paradoxe Verallgemeinerung der Singularisierung insofern ermögliche, als sie systematisch besondere Objekte verfertige. Die Unterscheidung zwischen zwei entgegengesetzten Logiken ermöglicht es Reckwitz, einer in der Soziologie verbreiteten Tendenz zu entgehen, die Modernisierung mit den Prozessen der formalen Rationalisierung und Versachlichung gleichsetzt. Aus seiner Sicht sei die Moderne immer von einer gegenläufigen Logik begleitet gewesen, die ?ihren zentralen Impuls? ?durch die auf den ersten Blick lediglich marginale künstlerische Bewegung der Romantik um 1800? erhaltet hätte. Es handele sich, sagt Reckwitz, um einen Faden, der im ?19. und 20. Jahrhundert keineswegs abgerissen? ist. Er ?durchzieht konstant die Moderne, etwa im Feld der Kunst, in der Religion oder auch in bestimmten Versionen des Politischen.? Dieser Impuls habe sogar die kulturrevolutionären Gegenbewegungen der 1960er und 1970er Jahre geprägt und spiegele sich heute in die Ideen von Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung der neuen europäischen und amerikanischen Mittelklassen wider, die die Entwicklung der aktuellen Singularisierungsprozesse ermöglicht hätten. Das bedeutet, dass der aktuelle gesellschaftliche Strukturwandel nicht die Folge der Entstehung etwas radikal Neues sei, sondern vielmehr der Rekonfiguration von Elementen, die schon seit der Romantik vorhanden seien.Allerdings gelingt es Reckwitz nicht, die Artikulation der Logik des Allgemeinen mit der des Partikularen in jeder Phase der Moderne zu erklären. Er beschränkt sich vielmehr darauf, die entgegengesetzten Logiken auf unterschiedlichen Gruppen oder Sphären zurückzuführen. So erscheint Kant als Vertreter par excellence der Generalisierung, während die Romantiker in Übereinstimmung mit dem herkömmlichen Vorurteil als der nichtrationalistische Teil der Moderne präsentiert werden. Dementsprechend wird behauptet, dass bei Kant ?das Besondere? ?als Exemplar eines allgemeinen Begriffs? eingeordnet und insofern als solches verkannt, d. h. auf ein ?konkretes Allgemeines? reduziert wird, während die ?marginale künstlerische Bewegung um 1800? auf die Selbstgestaltung des Individuums abziele. Damit scheint Reckwitz nicht nur die neuere philosophische und literaturwissenschaftliche Forschung zu übersehen, die die Verbindung der Romantik mit der generalisierenden Philosophie von Kant oder Fichte hervorhebt, sondern auch die Bedeutung, die die individuelle Freiheit und die subjektiven Rechte für den modernen Liberalismus gewinnen. Dass es beim Liberalismus nicht um das Eigentümliche geht, wie es bei der Romantik der Fall ist, ist sicherlich unstrittig, aber auch, dass das Individuum nicht als bloßes Exemplar gelten kann, wenn es für die eigentliche Bezugsgröße der sozialen Interaktion gehalten wird.Meiner Meinung nach ergeben sich diese Probleme aus Reckwitz´ Grundannahme, nach der die Moderne sich durch die Konkurrenz von zwei entgegengesetzten Tendenzen auszeichnet. Diese Annahme ist nicht nur extrem allgemein, denn man könnte eigentlich alle Gesellschaften als ?Gesellschaften der Extreme? bezeichnen, sondern auch irreführend, weil sie die Frage nach der Genese dieser Tendenzen ausblendet. Meine These lautet, dass in der Moderne ebenso wenig von zwei miteinander konkurrierenden Tendenzen zu sprechen ist wie von dem Individuum und der Gesellschaft als vorgegebenen Polen. Die von Reckwitz angedeuteten und naturalisierten Tendenzen sind vielmehr einander bedingende Momente der selbstreflexiven Bewegung, die sich aus den Paradoxien der modernen Auffassung der Subjektivität ergibt. Die Auffassung, die voraussetzt, dass die Freiheit darin besteht, dem eigenen Gesetz zu folgen, statt von außen beherrscht zu werden, verstrickt sich in Widersprüche, wenn sie versucht, sich klar zu machen, wie die Einsetzung eines Gesetzes der Freiheit überhaupt möglich ist. Denn dafür muss sie entweder annehmen, dass der Wille sich an ein vorgegebenes Gesetz hält und insofern nicht wirklich frei ist, oder auf die legale Form des freien Willes verzichten und die Freiheit mit der Willkürlichkeit der subjektiven Entscheidungen gleichsetzen. Aus diesem Paradox, das die Philosophie der klassischen Moderne auf unterschiedliche Weisen zu überwinden versucht hat, entspringen meiner Meinung nach die konkurrierenden Tendenzen, die Reckwitz´ analytische Vorgehensweise naturalisiert, ohne deren Verknüpfung in der Moderne erklären zu können. Diese Auffassung der Subjektivität werde ich anhand von Schlegels Überlegungen zum Kunstwerk skizzieren, welche wiederum am Beispiel seiner Interpretation der Entstehung der Homerischen Werke zu rekonstruieren sein werden. Schlegels dialektische Perspektive wird als ein der Reckwitzschen analytischen Methode entgegengesetztes Modell präsentiert. Dabei ist es nicht nur von Belang, dass Schlegel genealogisch die Tendenzen rekonstruiert, die Reckwitz als vorgegeben annimmt, sondern auch dass er es wagt, Satz und Gegensatz zugleich zu denken. Dadurch setzt er sich zwar der Gefahr aus, in Widerspruch mit sich selbst zu geraten, aber er eröffnet auch die Möglichkeit, das andere des Subjekts im Grunde der modernen Subjektivität selbst zu entdecken. Deswegen erlaubt Schlegels Perspektive, sowohl die Verknüpfung zwischen den gegensätzlichen Tendenzen der Moderne zu erläutern als auch den ?kulturrevolutionären Singularismus? der Romantik einzubeziehen, ohne ihn zu positivieren. Genau darin versagt der moderne Liberalismus ? und auch Reckwitz-, indem es unter Berufung auf das Wort ?Individuum? oder Singularisierung der unerhörten Unbestimmtheit, die von dem Subjektivierungsprozess selbst erzeugt wird, eine bestimmte und fixierte Gestalt verschafft wird. Es liegt die Vermutung nahe, dass diese einseitige Interpretation der Romantik Reckwitz auch zu einem Missverständnis der Spätmoderne und der möglichen Wege führt, auf denen die aktuelle soziale Sackgasse überwunden werden könnte. Indem er nämlich davon ausgeht, dass die Singularisierung eine autonome Tendenz ist, kann er sowohl annehmen, dass die gegenwärtigen Konflikte auf ein Übermaß an Singularisierung zurückzuführen sind, als auch dass die Lösung dafür in einer Zunahme der Regulation liegt. Das Problem betrifft uns alle heutzutage wesentlich, kann aber leider nicht innerhalb dieses Beitrages behandelt werden.